Lee Morgan:
The Sidewinder


The Sidewinder / Totem Pole / Totem Pole (Alternate Take) / Gary’s Notebook / Boy, What A Night /
Hocus-Pocus
Lee Morgan (tp), Joe Henderson (ts), Barry Harris (p), Bob Cranshaw (b), Billy Higgins (dr)
Englewood Cliffs, New Jersey, 21. Dezember 1961

 

Das Risiko einer Jazzproduktion war im Vergleich zu anderen Sparten relativ gering. So nahm die Firma Blue Note bis in die späten sechziger Jahre alles direkt auf zwei Kanäle analoges Band auf. Overdubs gab es nicht, Studiozeiten minimierten sich und die Ergebnisse waren trotzdem beachtlich. Kurz vor Weihnachten 1961 zum Beispiel fand sich der Trompeter Lee Morgan (1938-1972) bei Rudy Van Gelder in Englewood Cliffs ein, mit einem Quintett, das er sich für diesen Termin hatte zusammenstellen dürfen. Am Tenor spielte Joe Henderson, den er zwar nur von Platte kannte, aber wegen seiner Impulsivität schätzte (“I think he’s finding his own identity now”, meinte Morgan in den “Liner Notes”). Mit dem Pianisten Barry Harris hatte er bereits zusammengearbeitet, Bob Cranshaw und Billy Higgins wiederum galten als eine der vielseitigsten Rhythmusgruppen ihrer Tage. Gespielt wurden fünf Eigenkompositionen. The Sidewinder basiert auf einem langgezogenen 24-taktigen Blues, der in einen funky Rhythmus aufgelöst wird. Totem Pole war entstanden, nachdem Morgan ein Konzert von Dizzy Gillespie gehört hatte und dessen Version von The Mooche kopieren wollte. Es war in dessen typischem Wechsel von Latin- und Swing-Beat gehalten, und wurde die solistisch ausgereifteste Komposition des Albums. Gary’s Notebook war ein schneller 24-taktiger Moll-Blues-Walzer, Boy, What A Night basierte auf der gleichen Form, allerdings mit 12/8-Takt und Dur-Charakteristik. Hocus-Pocus wiederum griff auf die Harmoniefolge von Mean To Me zurück. Allen Songs gemeinsam war die enge Melodieführung der beiden Leadinstrumente, die bläserfreundlichen Themen, die solistische Erzählfreude der Beteiligten, wobei Harris’ an Bud Powell geschulte Single-Note-Improvisationen in ihrer reduktionistischen Ambition stellenweise verstockt wirkten (Totem Pole). Der junge Henderson hingegen spielte vehement gegen seine Vorbilder Sonny Rollins (Blues-Feeling) und John Coltrane (Steigerungstechnik) an. Morgan schließlich präsentierte sich fest in der Tradition seiner ehemaligen Arbeitgeber Gillespie (Linienführung) und Art Blakey (Gruppensound), führte deren Hardbob-Ideen aber mit melodischer Eloquenz und individueller Technik (Half-Valve-Töne wie in Totem Pole) fort. “The Sidewinder” wurde ein Hit, eine Hymne der Hipster und das Titelstück zum Ohrwurm, zitierfähig bis in die Zeit der Hip-Hop-Samples der Neunziger.

 

Quelle: Dombrowski, Ralf. 2005. „Basis-Diskothek Jazz“.
Mit einem Nachwort von Manfred Scheffner.
Stuttgart: Reclam.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

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