Ornette Coleman:
Free Jazz


Free Jazz / First Take
Ornette Coleman (as), Eric Dolphy (b-cl), Freddie Hubbard (tp), Don Cherry (Pocket-tp), Scott LaFaro,
Charlie Haden (b), Billy Higgins, Ed Blackwell (dr)
New York City, A & R-Studios, 21. Dezember 1960


Ornette Colemans (*1930) “Free Jazz” war der Schnittpunkt verschiedener laufender Diskurse. Bereits 1949 hatten Lennie Tristano und seine Schüler mit Intuition und Disgression die erste, strukturell offene Kollektivimprovisation auf Platte festgehalten. Cecil Taylor experimentierte seit Mitte der Fünfziger mit der Abkehr von verbindlichen Form- und Harmonieschemata, Charles Mingus mit songunabhängigen Themengliederungen und Übergängen zwischen Komposition und Improvisation, Sonny Rollins mit aufeinander folgenden motivischen Assoziationsketten. Coleman selbst wiederum war weit davon entfernt, alle Regeln des Jazz hinter sich zu lassen. Im Gegenteil: Seine Musik in “Free Jazz” blieb rhythmisch klar bebop- und bluesfundiert. Der Ablauf Thema – Soli – Thema war bewährt, die hierarchische Gliederung der Instrumente ebenso. An erster Stelle standen die Bläser, wobei Coleman selbst als Bandleader mit acht von knapp 37 Minuten das bei weitem längste Solo zugewiesen bekam. Die Exkurse der Rhythmusgruppen hingegen wurden in den zweiten Teil der Session gepackt, ansonsten standen sie dienend (Charlie Haden, Ed Blackwell) und kommentierend (Scott LaFaro, Billy Higgins) den Solisten zur Seite. Trotzdem führte die Veröffentlichung des Albums im September 1961 zu heftigen Kontroversen und Missverständnissen. Der Brachialverriss von John Tynan in der Jazz Zeitschrift Down Beat zum Beispiel brachte die Vorurteile auf den Punkt: “Kollektivimprovisation? Unfug. Die einzige Kollektivität besteht darin, dass diese acht Nihilisten zur gleichen Zeit im gleichen Studio mit dem gleichen Ziel angetreten sind: die Musik zu zerstören, der sie ihre Existenz verdanken.” Im Vergleich zu Zeitgenossen wie Paul Desmond oder Stan Getz mag dieser Eindruck plausibel erscheinen. Coleman hatte mit seinem Doppelquartett aus je zwei Bläsern, Bass und Schlagzeug jedoch anderes im Sinn. Ihm ging es darum, sich von den noch immer dominanten vierteiligen Songvorstellungen der Tin Pan Alley-Ära zu lösen, der Ästhetik der Reinheit eine Vorstellung der Menschlichkeit der Gestaltung – etwa in der vokalnahen, bis zum Schrei reichenden Tongebung – entgegenzusetzen und die inhaltlichen Diktate der Funktionsharmonik wie der Modalität hinter sich zu lassen. So war “Free Jazz” eine sechsteilige lockere Komposition, durch thematische Einschübe in Form von Bläserclustern oder kurzen Unisono-Themen gegliedert, die über weite Strecken rhythmisch konstant, aber harmonisch offen den Solisten Raum für Improvisationen gab. Hubbard und Dolphy waren Gäste und bereicherten die Session um mehr traditionell-hardboppige bzw. melodisch-intervallisch experimentelle Momente. Die übrigen Musiker waren eng mit Colemans Musik und Arbeitsweise vertraut und folgten mal kommentierend (Cherry, LaFaro, Higgins), mal sekundierend (Haden, Blackwell) dem Fluss der Inspiration. So entstand ein im Kern sehr klares, im kürzeren “First Take” sogar noch wesentlich komprimiertes Manifest der Traditionsaufweichung, das nicht Zerstörung, sondern Erweiterung der Klangsprache im Sinn hatte. Als solches wurde es auch von vielen Musikern verstanden und gab dem New Thing, das seit einigen Jahren durch die Szene geisterte, einen Namen.
Quelle: Dombrowski, Ralf. 2005. „Basis-Diskothek Jazz“.
Mit einem Nachwort von Manfred Scheffner.
Stuttgart: Reclam.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

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